Die Wahrheit: Früher war nicht alles besser

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Close-up of a wheat field under a bright summer sky, perfect for agriculture and landscape themes.

„Früher war alles besser.“
Diesen Satz hört man oft. Vielleicht kennst du ihn von deinen Großeltern. Vielleicht hast du ihn selbst schon mal gedacht.

Ich liebe es, in die Vergangenheit einzutauchen – alte Briefe zu lesen, in Taufbüchern zu blättern, in den vergilbten Kochbüchern meiner Oma zu stöbern und überlieferte Rituale genauer zu erforschen.
Als leidenschaftliche Ahnenforscherin, Ernährungsberaterin und Mutter fasziniert mich, was frühere Generationen bewegt und geprägt hat.

Aber wenn wir genauer hinschauen erkennen wir:
Früher war nicht alles besser. Es war anders.
Manches war härter. Vieles war schmerzhafter. Und das meiste: komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.

Die verlockende Illusion vom „besseren Früher“

Wenn ich durch alte Tagebücher blättere, Familienfotos betrachte oder mit älteren Menschen spreche, spüre ich oft diese stille Sehnsucht:
Nach einer Welt mit weniger Hektik. Mehr Beständigkeit.
Es scheint, als sei damals das Leben einfacher gewesen. Vor allem für Frauen, die „noch wussten, was sich gehört“.

Aber: Was wir oft als „einfach“ empfinden, war für viele Menschen ein Leben ohne Wahlmöglichkeit.

  • Die Großmutter, die immer stark war, hatte vielleicht nie Gelegenheit, schwach zu sein.
  • Die „brave Hausfrau“ lebte womöglich in emotionaler oder wirtschaftlicher Abhängigkeit.
  • Die natürliche Geburt bedeutete oft Schmerz, Angst und Alleinsein und nicht Empowerment.

Unsere Nostalgie blendet vieles aus: Gewalt, Armut, Enge, Schweigen.
Sie lässt uns glauben, dass früher alles richtiger oder besser war.

Frauenleben zwischen Pflicht und Schweigen

Viele meiner Ahninnen führten ein stilles, oft hartes Leben fern ab von großen Ereignissen.
Frauen, die nie öffentlich ihre Meinung sagten, keine Tagebücher hinterließen, deren Spuren nur in Kirchenbüchern oder Familienregistern auftauchen.
Sie heirateten jung, gebaren viele Kinder, arbeiteten mit am Feld, im Haus, in der Familie. Und das oft bis zum letzten Tag.

Doch hinter diesen nüchternen Zahlen stehen Geschichten:

  • Eine Ururgroßmutter, die mit 19 heiratete und mit 40 bereits acht Kinder begraben hatte.
  • Eine Tante, die kinderlos blieb – und über die nie gesprochen wurde.
  • Eine Ahnin, die aus der Kirche austrat ein stiller Akt des Widerstands, über den niemand redete.

Was wir als „traditionell“ bezeichnen, war für viele Frauen oft Zwang, Pflicht, Entfremdung.
Es gab kaum Raum für Individualität, für Selbstfürsorge, für Nein-Sagen.

Und doch überlebten sie. Gaben weiter, was sie konnten. Bewahrten Wissen. Ertrugen, was unaussprechlich war.

Ernährung damals: Natürlich aber oft einseitig

Auch die Ernährung ist ein Bereich, in dem „früher“ oft idealisiert wird.

Ja, es wurde frisch gekocht.
Ja, es wurde eingekocht (fermentiert), geerntet, verwertet.
Und ja, es gab keine industriell verarbeiteten Produkte voller Zusatzstoffe.

Aber: Es gab auch viel Hunger.
Armut. Vitaminmangel. Fehlende Auswahl. Und keine Nährstoffanalysen.

Beispiele:

  • In Wintermonaten fehlten oft frisches Obst und Gemüse – Vitamin-C-Mangel war keine Seltenheit.
  • Stillende Frauen mussten körperlich hart arbeiten – ohne kalorienreiche, nährstoffdichte Nahrung.
  • In Kriegs- und Nachkriegszeiten herrschte Mangelernährung – mit langfristigen Folgen, auch für die nächste Generation.

Während wir heute nach Superfoods googeln, ein Überangebot an Nahrungsmitteln im Supermarkt haben und Bio-Kisten abonnieren, kämpften viele Frauen damals mit der Frage, wie sie neun hungrige Kinder mit zwei Pfund Kartoffeln satt bekommen sollen.

Die Vorstellung, dass „die Leute früher gesünder waren“, hält historischen Fakten selten stand.
Viele Kinder starben früh, viele Frauen wurden nicht alt. Die meisten Krankheiten galten als normal, weil man keine Alternativen oder Medikamente dafür kannte.

Die heutige Rückbesinnung auf naturbelassene Ernährung ist wichtig – aber sie sollte nicht blind romantisiert werden.

Die Schatten der Vergangenheit wirken weiter

Viele unserer heutigen Lebensthemen wie Stress, Schuldgefühle, Erschöpfung, das Gefühl „nicht gut genug zu sein“ sind tief verwurzelt.
Oft finden wir in den Familiengeschichten die Ursachen:

  • Frauen, die nie für sich selbst sorgen durften
  • Mütter, die nie gelernt haben, auf ihre Intuition zu hören
  • Großmütter, die sich selbst verloren haben in Pflichten

Diese Muster werden oft unbewusst über Erziehung, Sprache und Verhalten weitergegeben.
Sie zu erkennen, zu benennen und zu heilen, ist eine Art der Selbstermächtigung.

Wenn Vergangenheit zum Dogma wird

Traditionen sind wertvoll. Sie geben Halt, Identität, Wurzeln.
Aber sie dürfen nicht zur Pflicht werden.

Wenn wir sagen: „Das hat man schon immer so gemacht“, ohne zu prüfen, ob es heute noch zu uns passt verlieren wir unsere Gestaltungskraft.

Gerade in der Arbeit mit Frauen, die sich nach einem natürlicheren Lebensstil sehnen, beobachte ich manchmal eine problematische Art der Selbstverurteilung:
Sie wollen „alles richtig machen“, so wie „damals“, und setzen sich damit enorm unter Druck.
Dabei dürfen wir auch anerkennen: Unsere Lebensrealität ist eine andere. Unsere Bedürfnisse sind es auch.

Warum das auch politisch ist – besonders für Frauen

Unsere Ahninnen haben dafür gekämpft, dass wir heute wählen, lernen, arbeiten, forschen und frei gebären dürfen.
Manche dieser Rechte mussten mühsam erkämpft werden. Andere gelten erst seit wenigen Jahrzehnten.

Deshalb ist es wichtig, nicht nur die Schönheit vergangener Zeiten zu sehen, sondern auch den Preis, den viele Frauen dafür bezahlt haben.

Wir ehren unsere Ahninnen nicht, indem wir sie idealisieren.
Sondern indem wir weitergehen, wo sie nicht gehen konnten.
Indem wir uns ausdrücken, wo sie schweigen mussten.
Indem wir heilen, was sie nicht lösen konnten.

Was wir heute anders machen dürfen

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Vieles, was früher nicht möglich war, ist heute zugänglich:

  • Bildung für Frauen
  • Selbstbestimmung über Körper und Lebensform
  • Wissen über Ernährung, Gesundheit, Geburt und Zyklus
  • Austausch über Trauma, Heilung, Spiritualität

Aber mit dieser Freiheit kommt auch Verantwortung:
Wir dürfen wählen. Hinterfragen. Uns neu erfinden.

Und wir dürfen dabei auch scheitern, zweifeln, suchen.
Es muss nicht perfekt sein. Nur ehrlich.

Reflexionsfragen für deinen Weg

  • Welche Traditionen deiner Familie fühlen sich für dich wie Zwang an?
  • Gibt es Themen, über die „man nicht spricht“ – die du aber spürst?
  • Mit welcher weiblichen Ahnenlinie möchtest du Frieden schließen – und wie?
  • Wo lebst du noch im Muster früherer Generationen – und wo willst du ausbrechen?

Mein Fazit

Früher war nicht alles besser. Aber alles war anders.

Wir sind heute nicht hier, um die Vergangenheit zu wiederholen – sondern um sie zu ehren und zu heilen.
Um das weiterzutragen, was Kraft gibt und das loszulassen, was uns klein hält.

Wir dürfen laut sein, wo unsere Ahninnen schweigen mussten.
Dürfen sanft sein, wo sie hart sein mussten.
Wir dürfen uns zeigen: Für sie, für uns, für die, die nach uns kommen.

2 Kommentare

  1. Danke! Ich habe mal gelesen, Traditionen sind Gruppendruck von toten Menschen. Natürlich ist nicht alles verkehrt, was wir an Tradition haben und es muss ja nicht mit jeder Generation alles wieder eingerissen und umgestrickt werden. Aber es ist so heilsam, das mal zu hinterfragen, was wir machen, ob wir damit nur Erwartungen anderer erfüllen.
    Und vielen Dank vor allem auch für das Hinterfragen der Erzählung, dass es früher doch so super war. Damit binden wir uns echt einen richtig fiesen Klotz ans Bein.
    Liebe Grüße
    Angela

    1. Liebe Angela,
      vielen Dank für deinen netten Kommentar.
      Der Gedanke mit dem Gruppendruck von toten Menschen bringt es perfekt auf den Punkt. Darum geht es mir auch: Traditionen auch einmal zu hinterfragen und nicht blind zu übernehmen, nur weil es „schon immer so gemacht wurde.“
      Natürlich müssen wir dabei nicht gleich alles alte niederreißen, denn manches ist ja auch wirklich wertvoll.
      Liebe Grüße
      Tina

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